A. Würgler: Die Tagsatzung der Eidgenossen

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Titel
Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470-1798)


Autor(en)
Würgler, Andreas
Reihe
Frühneuzeit-Forschungen 19
Erschienen
Epfendorf 2013: bibliotheca academica Verlag
Anzahl Seiten
717 S.
Preis
€ 68,00
URL
von
Nadir Weber

In der klassischen Schweizer Nationalgeschichte hatte die frühneuzeitliche Tagsatzung keinen besonders guten Ruf. Gemessen am Modell moderner parlamentarischer Volksvertretungen erschienen die in unterschiedlicher Frequenz stattfindenden Versammlungen einer variierenden Anzahl von Vertretern der Orte und ihrer Zugewandten vor allem als defizitär. Weder folgte der Ablauf der Tagsatzungen einer schriftlich fixierten Satzung, noch hatten sie wirklich verbindliche Entscheidungskompetenzen; von Staatlich keit kaum eine Spur. Dass die gemeineidgenössischen Tagsatzungen nach einer Hochphase im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert immer seltener stattfanden, passte zudem ins Meisternarrativ eines nach dem Bruch der Reformation «erstarrten» Bundeslebens, das erst mit der Gründung des modernen Bundesstaats revitalisiert worden sei. Mit seinem gewichtigen, auf eine Habilitationsschrift zurückgehenden Werk legt Andreas Würgler eine Neuinterpretation zur Tagsatzung vor, die sich von diesen hergebrachten Narrativen deutlich abhebt. Bereits in der Einleitung macht der Autor klar, dass die eidgenössische Tagsatzung in der Frühen Neuzeit keineswegs in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwand. Vielmehr erlangte und behauptete sie eine «zentrale Bedeutung als Integrationsfaktor für die Orte und als symbolische Verkörperung der Eidgenossenschaft» (S. 21).

Als Tagsatzung definiert der Autor pragmatisch eine Versammlung, an der Vertreter von mindestens drei Orten (unterschiedlicher Konfession) über mehrere Geschäfte berieten; «gemeineidgenössisch» war die Tagsatzung, wenn die Einladung an alle vollberechtigten Orte ging (S. 20, S. 172 f.). Würgler grenzt sie damit von anderen Versammlungsformen wie bilateralen Treffen, Konferenzen zur Verwaltung Gemeiner Herrschaften oder konfessionellen Konferenzen ab, die jedoch allesamt ebenfalls im Blick der Analyse bleiben. Die Studie ist «umfassend und polyperspektivisch» (S. 85) angelegt, was sich auch in der Gliederung spiegelt: Auf einen ersten Teil, der eine quantitativ-systematische Analyse der Akteure und Aktivitäten der Tagsatzung beinhaltet, folgt ein noch umfangreicherer zweiter Teil zu Formen der Kommunikation, Soziabilität und Symbolisierung. Im dritten Teil werden schliesslich die Aussenwahrnehmungen der Tagsatzung untersucht und die Institution einer europäisch-vergleichenden Analyse unterzogen. Zahlreiche Tabellen, Grafiken und kommentierte Bildquellen sowie ein detailliertes Personen-, Orts- und Sachregister bieten nicht nur Orientierung, sondern unterstreichen auch den Status als Nachschlagewerk.

Bereits der erste Teil der Studie ist dermassen dicht an Information, dass er sich in diesem Rahmen nicht sinnvoll zusammenfassen lässt. Aufbauend auf einer quantitativen Analyse der «Amtlichen Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede» – deren Aussagewert hinlänglich problematisiert wird – gelingt es dem Autor, empirisch belastbare Aussagen zu den Teilnehmern, Frequenzen und Themen der Tagsatzungen zu machen. Unter anderen kann er dabei nachweisen, dass die Häufigkeit der Tagsatzungen im Verlauf der Frühen Neuzeit zwar abnahm, dafür aber die Dauer und die Menge der behandelten Traktanden stiegen. Dieser Befund relativiert die These des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Tagsatzungen ab dem 16. Jahrhundert. Eine inhaltliche Typologisierung der Geschäfte im Zeitraum von 1470 bis 1600 zeigt, dass die Tagsatzung nicht primär eine Institution der Gesetzgebung war (diese machte lediglich 3,85 % des Outputs aus, S. 223), sondern vielmehr ein Forum für die Mediation, Koordination und Kommunikation zwischen den Orten sowie eine bevorzugte Bühne für den diplomatischen Verkehr mit fremden Mächten.

Im zweiten und dritten Teil der Studie werden anhand einer systematische Auswertung einer Vielzahl von weiteren Quellen – von handschriftlichen Relationen über Wappenscheiben und Bilderchroniken bis zu gedruckten Staats- und Reisebeschreibungen – die Abläufe, Funktionen und Wahrnehmungen der Tagsatzung anschaulich und detailreich vor Augen geführt. Dabei macht der Autor unter anderem deutlich, dass die seit der Reformation ausgebliebenen Bundesbeschwörungen durch den an der Tagsatzung vorgebrachten «eidgenössischen Gruss» symbolisch-performativ kompensiert wurden. Die damit verbundene Aufwertung der Tagsatzung war – so liesse sich darüberhinausgehend deuten – trotz des wiederholt geäusserten Bedauerns über die wechselseitige Eidverweigerung wohl durchaus im Sinne der hier präsenten Eliten: Nicht mehr Bürger oder Landsleute konstituierten mit ihrem Schwur den helvetischen Körper, sondern die periodisch zusammentretenden Vertreter souveräner Republiken.

Angesichts der weiten Thematik und des bereits erheblichen Umfangs scheint es wenig angemessen, dem Werk eine mangelnde Berücksichtigung einzelner Quellengattungen oder die ungleiche Gewichtung der Jahrhunderte anzulasten; künftige Forschungen mögen die wachsende Bedeutung des zwischenörtischen Schriftverkehrs stärker beleuchten oder das Bild der Tagsatzung im späten 17. und 18. Jahrhundert weiter nuancieren. Insgesamt steht die Studie beispielhaft für einen in den letzten beiden Jahrzehnten erfolgten Paradigmenwechsel in der Erforschung der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, der geprägt war von einer stärker europäisch-vergleichenden Perspektive sowie einer sozial- und kulturgeschichtlichen Zugangsweise. Dass damit das Funktionieren des Corpus helveticum weit besser beschrieben werden kann als in einer von der Norm des modernen Nationalstaats ausgehenden Optik, zeigt das Werk von Andreas Würgler eindrücklich auf. Erst nachdem die vormoderne Institution in ihrer Eigenlogik erfasst ist, kann man sich schliesslich auch zur Pointe vorwagen, dass manche Elemente der Tagsatzung im Schweizer Ständerat fortlebten – und sie zur «wohl langlebigsten repräsentativen Institution der Weltgeschichte» machten (S. 15; vgl. S. 617). Zweifellos liegt mit der Studie nicht nur auf absehbare Zeit das Standardwerk zur Tagsatzung der Eidgenossen vor, sondern auch ein Steinbruch für alle künftigen Forschungen zur politischen Kultur der frühneuzeitlichen Schweiz

Zitierweise:
Weber, Nadir: Rezension zu: Würgler, Andreas: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470–1798), Epfendorf / Necka 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 470-472. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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